„Langes Stillen – natürlich, gesund, bedürfnisorientiert“: Autorin Kathrin Burri über die Vorteile vom Langzeitstillen

Für uns stand fest, dass ich Krümel stille und das hat von Anfang an auch super geklappt. Ich war ziemlich irritiert, als mit etwa sechs Monaten mein Umfeld anfing, mich zu fragen, ob ich denn nun abstillen wolle. Nein, das wollten wir definitiv nicht! Warum auch? Stillen bringt so viele Vorteile mit sich und außerdem war Krümel ja noch ein Baby. Warum sollte ich mein Baby von meiner Milch abgewöhnen, um ihn dann mit industriell hergestellter Milch zu füttern? Dass wir aber ganze 18 Monate stillten, das hätte ich damals eher nicht gedacht. Dabei emphielt die WHO sogar, die ersten sechs Monate voll zu stillen, also nicht zuzufüttern, und auch danach noch weiter zu stillen. Langzeitstillen ist aber leider immer noch ein absolutes Tabuthema. Nur Babys sollten gestillt werden und das bitte auch ja schön dezent. Ein Kleinkind in der Öffentlichkeit am Busen? Oh, nein! Doula Kathrin Burri hat ihre beiden Kinder selbst weit über das erste Jahr hinaus gestillt und sich diesem Tabu-Thema in ihrem Buch „Langes Stillen – natürlich, gesund, bedürfnisorientiert“ angenommen. Warum es gesund ist, wenn Mutter und Kind länger stillen, welche Rolle unser Umfeld dabei spielt und wie man dennoch bedürfnisorientiert abstillt, das verrät sie in diesem Interview.

Was bedeutet überhaupt „langes“ Stillen? Ab wann gilt Stillen als (zu) lang?

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„Langes Stillen“ von Kathrin Burri, (c) Kösel Verlag

„Menschen, welche selbst nicht stillen, werden wohl eher einen kürzeren Zeitraum angeben als eine schon länger stillende Mutter. Die Definition von langem Stillen ist gar nicht so einfach. Da die Großzahl der Mütter bereits nach sechs Monaten abstillen, finden einige, dass wenn darüber hinaus gestillt wird, dies als „lange“ gilt. Wenn das Kind den ersten Zahn bekommt, kann dies ebenfalls der Auslöser sein zu empfinden, dass jetzt Schluss ist. Andere finden, dass ab einem Jahr das Stillen nicht mehr nötig ist, da Milch im ersten Lebensjahr als Hauptnahrungsquelle dient. Wieder andere definieren Langzeitstillen als das Stillen ab zwei Jahren oder später. Alles hat seine Berechtigung und sollte vom jeweiligen Umfeld akzeptiert werden. Es kommt sehr darauf an, wie lang (oder besser gesagt: wie kurz) üblicherweise in der entsprechenden Kultur respektive dem jeweiligen sozialen Umfeld gestillt wird – und wie nahestehende Personen über das Stillen denken.“

Was sind die Vorteile von Langzeitstillenden und –gestillten?

„Dem Kind wird durch das lange Stillen eine bessere Infektabwehr ermöglicht – auch nach einem Jahr. Allergien, Asthma, Fettleibigkeit und Diabetes I und II treten bei Stillverzicht häufiger auf. Die seelische und geistige Entwicklung sowie des Sozialverhalten werden positiv unterstützt. Bei Krankheit ist Muttermilch oft das Nahrungsmittel, das beispielsweise bei Magendarmproblemen noch gut behalten wird. Zudem deckt es auch den Flüssigkeitsbedarf und spendet Nähe und Trost. Und nicht zu vergessen: Stillen ist wesentlich kostengünstiger als die Fütterung mit Säuglingsnahrung. Milch der Menschenmutter ist für ein Menschenkind die arteigene, optimale Milch. Immer vorausgesetzt, dass die Mutter keine übertragbaren Infektionen hat. Trotz langer und stets fortschreitender Forschung kann auch heute Muttermilch nicht ansatzweise kopiert werden. Stillen ermöglicht dem Kind wie der Mutter einen kurzen Rückzug im Alltag, was sehr wertvoll sein kann. Für die Mutter bedeutet das lange Stillen, dass sie ein geringeres Risiko für Brust-, Eierstock- und Gebärmutterkrebs und Diabetes hat. Diese positiven Faktoren nehmen mit der Länge der Stilldauer sogar noch zu und nicht etwa ab.“

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Das Stillen kann für Mutter und Kind ein Rückzugsort sein, Foto: Gina Grüter, natural photography

Wie gelingt der optimale Stillstart? Kann man sich auf das Stillen vorbereiten?

„Eine gute Vorbereitung ist das A und O. Nicht nur für das Stillen, sondern auch für die Geburt. Maßgebend ist die Wahl des Geburtsortes und die Zusammensetzung des Geburtsteams. Man überlegt sich am besten früh genug, wer die Geburt begleitet. Sei dies der eigene Partner, eine Beleghebamme, eine Doula oder die eigene Hausgeburtshebamme. Denn auch die Geburt hat einen großen Einfluss auf das Stillen. Wobei ein nicht gelungener Stillstart kein Ausschlusskriterium für langes Stillen ist. So war es auch bei mir, da beide Starts sehr holprig waren. Sehr hilfreich kann es auch sein, wenn man sich bereits in der Schwangerschaft mit Stillenden trifft (örtliches Stilltreffen) und austauscht. Es lohnt sich, bereits in der Schwangerschaft eine ausgebildete Stillberaterin des Vertrauens zu suchen, welche bei Problemen nach der Geburt unterstützend zur Seite stehen kann. Nach der Geburt sollte die junge Familie für mindestens ein bis zwei Stunden ungestört zusammen sein dürfen. Kein Wiegen, Messen, Waschen und Anziehen ist in dieser Zeit nötig, sondern das Beschnuppern und Kennenlernen steht an erster Stelle.“

Ist es heutzutage leichter oder schwieriger zu stillen als noch vor einer oder zwei Generationen?

„Heute ist das Verständnis und das Angebot rund ums Stillen viel größer als noch zu der Zeit, als wir Babys waren. Unsere Mütter bekamen damals sehr schnell ein mit Pulvermilch gefülltes Fläschchen in die Hand gedrückt, wenn es nicht von Anfang an klappte mit dem Stillen. Stillberaterinnen waren Mangelware. Die Ausdauer und das Wissen rund um die Ernährung mit Muttermilch waren definitiv viel kleiner. Nur wenige Mütter stillten nach ein paar Wochen noch, geschweige denn nach Monaten oder Jahren. Aber auch heute müssen viele Mütter darum kämpfen, eine adäquate Hilfe beim Stillen zu bekommen.“

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Stillen ist eine individuelle Entscheidung, Foto: Gina Grüter, natural photography

Babys kommen mit dem Bedürfnis auf die Welt, gestillt zu werden. Haben wir es verlernt, dieses Bedürfnis wortwörtlich zu stillen?

„Menschenbabys sind »Säugetiere« und wissen eigentlich von Natur aus, was sie machen müssen. Legt man ein neugeborenes, waches Baby gleich nach der Geburt auf die Brust der Mutter, ist es in der Lage, dem Geruch der Brustwarze entgegen zu robben (der sogenannte Breast Crawl) und eigenständig das erste Mal an der Brust zu saugen. Damit der Geruchssinn nicht gestört wird, ist es wichtig, dass weder Baby noch Mutter von Sekreten abgetrocknet werden. Auch wichtig zu wissen: Uns Müttern fehlen der Clan, das Dorf und die Vorbilder um mit einem gewissen Rückhalt das Leben mit Baby und Kind zu bestreiten. Das Stillen wird weltweit von den Gesundheitsorganisationen, Hebammen und anderen Fachpersonen rund um die Kindergesundheit ausdrücklich empfohlen, wenn Mütter allerdings über den ersten Geburtstag hinaus stillen, schlägt ihnen oft große Skepsis entgegen. Teilweise braucht es eine große Portion Mut und Unterstützung innerhalb der Familie, damit man diesen Vorwürfen Stand hält und sich nicht in diese individuelle Angelegenheit reinreden lässt.“

Welchen Einfluss hat die Werbung auf das (Langzeit-)Stillen?

„Ich wundere mich immer wieder, wie Menschen eine stillende Mutter als störend empfinden können, wenn sie ihr Kind in der Öffentlichkeit stillt. Dabei sogar ihre Brust dezent bedeckt und außer der Situation an sich, nichts zu sehen ist. Oder sie wird sogar aus einem Lokal gewiesen. Eine halb nackte Frau auf einem Plakat nimmt die Gesellschaft aber als völlig normal hin. Vielerorts wird ein Kind mit Flasche und Schnuller gezeigt, sei dies in einem Film oder in der Werbung, aber sehr selten stillend. Langes Stillen kommt in Medien und Werbung kaum vor und wenn, dann eher negativ behaftet, gespickt mit vielen Vorurteilen. Der Verkauf von Säuglingsnahrung und Hilfsmitteln und die damit verbundene Werbung ist lukrativ. Mit Stillen lässt sich kein Geld erwirtschaften.“

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Mutter und Kind profitieren beide vom Stillen, Foto: Gina Grüter, natural photography

Wie kann ich eigentlich damit umgehen, wenn mich mein Umfeld aufgrund des Stillens kritisiert?

„Man kann klar kommunizieren, dass man in Fragen der Erziehung und Ernährung keine ungefragten Kommentare wünscht. Oder aber man nimmt zu den Äußerungen Stellung und untermauert diese mit Fakten, wie sie auch in meinem Buch zu finden sind. Sich selber stärken, indem man sich mit Gleichgesinnten trifft, gibt Halt. Dies kann man in örtlichen Stilltreffen oder auch virtuell gut umsetzen. Vertrauen in sich selber und in sein Kind entwickeln.“

Und wenn man dann merkt, es passt nicht mehr: Wie stille ich richtig ab? Was sind die besten Abstill-Tipps?

„Dem Bedürfnis des Kleinkindes zu folgen, ist bestimmt am allerwichtigsten. Aber auch die eigenen Bedürfnisse sollten nicht zu kurz kommen. Wenn sich das Stillen für eine Mutter nicht mehr stimmig anfühlt, sollte auch sie das Recht haben, diese Situation zu verändern. Ab einem gewissen Alter kann die Familie mit dem Kind verschiedene Abmachungen treffen. Unter Umständen werden die Stillmahlzeiten in der Nacht reduziert und auf die Morgen- und/oder Abendstunden verlegt. Langsam können so einzelne Mahlzeiten weiter reduziert werden. Bedenkt man, wie lange das Kind schon stillen durfte, sollte auch das Abstillen sehr langsam erfolgen. Ein abruptes Ende ist meist für das Kind sehr schwierig zu verkraften und ist nicht optimal. Steht eine neue Schwangerschaft an, muss überhaupt nicht zwingend abgestillt werden, außer es besteht das Risiko einer Fehl- oder Frühgeburt. Dies sollte individuell mit einer Fachperson wie Arzt oder Hebamme besprochen werden. Das sogenannte Stillen zweier Kinder nennt man Tandemstillen und kann dem größeren Kind wunderbar helfen, die Ankunft des Geschwisterchens weniger intensiv zu erleben. Braucht man Hilfe bei Schlafthemen, wendet man sich am besten an eine Schlafberaterin. Für Fragen rund um den Abstillprozess sind ausgebildete Stillberaterinnen die richtigen Ansprechpersonen.“

Über die Autorin:

Kathrin Burri, Foto: Gina Grüter, natural photography
Kathrin Burri, Foto: Gina Grüter, natural photography

Kathrin Burri ist zweifache Mutter und seit 2015 in der Geburtsbegleitung tätig. Sie ist ausgebildete Doula und führte eine Erhebung zum Thema Langzeitstillen mit mehreren Tausend Teilnehmern (Mütter und Väter) durch. Kathrin Burri hat zahlreiche Weiterbildungen im Bereich Stillen, Geburtshypnose und Geburtsbegleitung absolviert und arbeitet in der Schweiz. Ihr Buch „Langes Stillen – natürlich, gesund, bedürfnisorientiert“ ist am 27. April 2020 im Kösel Verlag erschienen. Angebote und Adressen zu Still- und Schlafberater*innen sind im Anhang von „Langes Stillen“ zu finden. Die Bilder wurden von Gina Grüter von natural photography aufgenommen.

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